METANASTIS

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Zum Verhältnis von Politik und Ökonomie

Von Dr. Andreas Kamp

 Die BRD darf sich glücklich schätzen. Schließlich dienen ihr die "Fünf Weisen", die in halbjährlichen Gutachten die Lage analysieren, Lob oder Tadel an Regierung, Notenbank und Tarifparteien verteilen, Prognosen erstellen und Handlungsvorschläge offerieren! Bei diesen "Weisen" haben wir es freilich nicht mit Theologen oder Philosophen zu tun, ja nicht einmal mit Historikern, Politik- oder Sozialwissenschaftlern, sondern mit ... Ökonomen! Man sieht förmlich, wie sich von Hegel über Descartes und Thomas v. Aquin bis hin zu Aristoteles und Platon die crème de la crème der europäischen Geistesgeschichte voller Schauder im Grabe umdreht. Der Kanzler will die große Steuerreform zum Hauptthema des Wahlkampfes machen, sein Herausforderer die Massenarbeitslosigkeit. Die wegen ihrer Selbstdefinition als "Partei der Besserverdiener" mittlerweile fast wählerfreie F.D.P. möchte sich als Steuersenkungs-Partei profilieren. Die Bündnisgrünen wurden soeben vom Wähler bitter für ihre Absicht bestraft, den Benzinpreis auf 5 DM pro Liter anzuheben. Die Ära des ideologisch bedingten, politisch, ökonomisch und militärisch ausgetragenen Ost-West-Konflikts ist vorüber. An seine Stelle trat die "Globalisierung". Deren Hauptakteure sind nicht mehr Nationalstaaten bzw. ihre Regierungen, sondern weltweit operierende Großkonzerne, die Ziele nicht mehr die Eroberung von Land, die Verbreitung einer bestimmten Ideologie oder die Verteidigung gewisser "Werte", sondern die Steigerung des Umsatzes und die Übernahme oder der Konkurs konkurrierender Anbieter, kurz: die totale Dominanz über den globalen Markt. Statt Thomas Jefferson oder Bismarck herrschen in dieser brave new world Billy Gates und "Peanuts"-Kopper. Können wir der letzten Endes zwangsläufig zur Aufhebung des Politischen führenden totalen Ökonomisierung (noch) erfolgreich Widerstand leisten? Jedenfalls bedürfte es einer gründlichen Besinnung! Und was wäre da vernünftiger, als den "Vater" der politischen Wissenschaft und Mitbegründer der Ökonomie um Rat zu fragen? I: Aristoteles zur "Topographie" von Ökonomie und Politik (Politik, I 1-2, und NE, I 1) "Ökonomie" ist ein schon vor Aristoteles (u.a. bei Platon bzw. Xenophon) dokumentierter, aus den Grundwörtern Oikos (= Haus) und Nomos (= Gesetz, Ordnung) zusammengesetzter Terminus. Buchstäblich genommen bedeutet Ökonomie die "Haus-Ordnung", qua Bezeichnung für die spezifische, etwa von der Physik abgegrenzte Disziplin die "Wissenschaft von der Ordnung des Hauses". Unter "Haus" versteht Aristoteles nicht das Gebäude, sondern eine spezielle Form menschlicher Gemeinschaft. Sie stellt ihrerseits eine Synthese aus den ihr vorausliegenden Gemeinschaften Mann-Frau, Eltern-Kinder sowie Herr-Sklave dar. Wie jede andere Gemeinschaft zielt der Oikos notwendig auf ein bestimmtes Gutes ab, und da er eine zusammengesetzte Gemeinschaft ist, umfasst sein Ziel die Ziele seiner Teil-Gemeinschaften: zum einen die biologische Erhaltung der menschlichen Spezies, zum anderen durch die Produktion bzw. Beschaffung von Nahrung, Kleidung etc. die Gewährleistung des physischen Überlebens sowie die Befriedigung rudimentärster Bedürfnisse. Weil seine Teil-Gemeinschaften "von Natur" existieren, ist auch der Oikos eine "natürliche", also keineswegs etwa erst per Vertrag oder Zwang herzustellende Gemeinschaft. Das durch natürliche Teil-Gemeinschaften konstituiertes Haus fungiert seinerseits als Element des Dorfes. Aus mehreren Dörfern wiederum besteht die umfassendste und vollkommenste, auf den höchsten und umfassendsten Zweck abzielende menschliche Gemeinschaft: die Polis. "Sie hat sozusagen die Grenze der vollendeten Autarkie erreicht, ist um des bloßen Lebens willen entstanden, besteht aber wegen des Gut-Lebens. Darum existiert sie von Natur, weil es ja auch jene ersten Gemeinschaften tun. Denn die Polis ist deren Ziel, Ziel aber ist die Natur. Denn den Zustand, den jedes Einzelne erreicht, wenn seine Entwicklung zur Vollendung gelangt, nennen wir seine Natur... . Ferner ist das Weswegen und das Ziel das Beste. Die Autarkie aber ist das Ziel und das Beste. Daraus ist also klar, dass die Polis zum von Natur Seienden gehört und der Mensch von Natur aus politisches Lebewesen ist" (Pol., I 2). Grundlage der Polis bzw. der politischen Natur des Menschen wiederum ist dessen Fähigkeit zur praktischen Vernunft und ihrer Veröffentlichung. "Denn dies ist im Unterschied zu den anderen Lebewesen den Menschen eigen, dass nur sie die Erkenntnis des Guten und Schlechten, Gerechten und Ungerechten usw. besitzen. Die Gemeinschaft darin aber bewirkt das Haus und die Polis" (ebd., I 2). Die Polis basiert so einerseits auf praktischer Vernunft und stellt andererseits die Sphäre dar, in der praktische Vernunft zur vollendeten Realisierung gelangt. Aus der oben skizzierten Relation Polis-Oikos resultiert das hierarchische Verhältnis zwischen politischer und ökonomischer Wissenschaft. Während Aristoteles die politische Philosophie als die umfassendste, leitendste und mit Abstand höchste aller auf das Handeln oder Herstellen bezogenen Wissenschaften auszeichnet, wird die Ökonomie der politischen Theorie untergeordnet und ganz in ihren Dienst gestellt (NE, I 1). Angelehnt an die im Mittelalter so beliebte These "philosophia ancilla theologiae" kann man deshalb konstatieren, dass bei Aristoteles die Ökonomie als Magd der politischen Philosophie figuriert. II: Struktur und Funktion des Oikos (Politik, I 3-13) Die Ökonomie thematisiert den Oikos. Sie behandelt also a) die den Oikos konstituierenden Teil-Gemeinschaften, b) die von der Haus-Gemeinschaft angestrebten Ziele sowie die zu deren Erreichung einzusetzenden Mittel. Ad a) Die den Oikos bildenden Teil-Gemeinschaften sind hierarchisch strukturiert. Basis und Maßstab der Hierarchie ist, was das Wesen des Menschen ausmacht: die Fähigkeit zur Realisierung von ethischer Tugend und praktischer Vernunft. Von allen Mitgliedern des Hauses vermag allein der Mann ethische Tugenden und praktische Vernunft perfekt zu verwirklichen. Kinder können beides noch nicht leisten, Frauen sind prinzipiell nur zur eingeschränkten Realisierung in der Lage. Es ist daher ebenso natürlich wie gerecht, wenn der Mann die Leitung über seine Frau und die gemeinsamen Kinder innehat. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um die Leitung über von Geburt Freie. Am unteren Ende der Skala steht der "Sklave von Natur". Er qualifiziert sich genau dadurch als Sklave "von Natur", dass er selbständig weder über ethische noch intellektuelle Tüchtigkeit verfügt. Zur Verwirklichung wenigstens rudimentären Mensch-Seins bedarf der "Sklave von Natur" - im übrigen die einzige Form von Sklaverei, die Aristoteles nicht nur akzeptiert, sondern energisch verteidigt! - des durch ethische Tugend und praktische Vernunft ausgezeichneten Herrn. Dem die Funktionen des Ehegatten, Vaters und Herrn in sich vereinenden, exklusiv durch vollendete ethisch-intellektuelle Tüchtigkeit charakterisierten Oikos-Vorstand bleibt als einzigem Haus-Mitglied ein Leben oberhalb der ökonomischen Ebene vorbehalten: Die Sorge um das Haus seiner Frau oder einem Verwalter überlassend, treibt er mit seinesgleichen Politik oder Philosophie! Ad b) Der Oikos bezweckt durch die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse die Sicherung des Überlebens seiner Mitglieder. Ökonomie wird deshalb auch zur Erwerbs- bzw. Gebrauchskunst. Aristoteles unterscheidet mehrere Formen von Erwerbskunst: 1) Die "natürliche Erwerbskunst" besorgt die für die Subsistenz von Oikos und Polis "notwendigen und nützlichen" Güter wie Korn, Wein, Fisch oder Wolle. Der Bedarf an solchen Gütern unterliegt einer natürlichen Begrenzung. Als deren Kriterium fungiert die Autarkie der Polis. Nun kann es vorkommen, dass die zur Polis gehörenden Häuser den vorhandenen Bedarf nicht zu decken vermögen. Also tauscht man mit benachbarten Poleis Wein gegen Korn oder Öl gegen Fleisch. Aristoteles lobt diesen Tauschhandel nicht, akzeptiert ihn jedoch, sofern er der Autarkie der Polis dient bzw. durch den Hinblick auf die Autarkie reguliert wird.2) Aus dem Tauschhandel entstand die "überflüssige Erwerbskunst" des Kaufmanns. Sein Handel dient nicht mehr der Autarkie der Polis und wird auch nicht mehr durch sie begrenzt, vielmehr ist der Erwerb von Reichtum zum Ziel geworden. Diese grundverkehrte Ausrichtung resultiert daraus, dass man sich nicht um das vollkommene Leben bemüht bzw. völlig falsche Vorstellungen über die beste Lebensweise hegt: Gut-Leben wird mit Reich-Sein identifiziert! Dabei übersieht man dreierlei: a) Reichtum kann gar kein Endzweck, sondern nur Mittel für andere Zwecke sein. b) Reichtum ist prinzipiell grenzenlos und deshalb letztlich unerreichbar. c) Reichtum kann richtig oder falsch benutzt werden. Zur richtigen Verwendung, die z.B. in Hilfeleistungen für Freunde, Stiftungen kultureller Natur an die Polis oder der freiwilligen Übernahme öffentlicher Ausgaben besteht, ist nur der Tugendhafte fähig (NE, IV 1-5).3) Aus dem Tauschhandel ging auch die "widernatürliche Erwerbskunst" hervor. Ursprünglich war Geld nur ein zur Erleichterung des Handels erfundenes Mittel. Die Bankiers erhoben das Mittel jedoch zum Zweck: Sie funktionieren das Geld selbst zur Ware um, verleihen es, kassieren dafür Zinsen und machen so Geld aus Geld. Ein wahrhaft hassenswertes Gewerbe (Pol., I 10)!Aristoteles schließt mit zwei essentiellen programmatischen Überlegungen: a) Da der Oikos u.a. die für die Subsistenz der Polis nötigen und nützlichen Güter beschaffen soll, muss der Politiker gründliche ökonomische Kenntnisse besitzen (ebd., I 11). b) Hauptziel der Ökonomie ist keineswegs die Besorgung jener Güter, vielmehr muss sich der Haus-Vorstand primär darum kümmern, die übrigen Oikos-Mitglieder in Bezug auf die Polis-Ordnung zu erziehen (ebd., I 13). Politische "Bildung" (= paideia) wird also zum eigentlichen Zweck von Ökonomie. III: Ökonomisierung der Politik oder Dekadenz des Politischen und was man dagegen tun kann (Politik, III-V). Wäre die Polis-Welt vernünftig geordnet, würde politische Partizipation, d.h. die Teilnahme an Bürgerschaft und Polis-Leitung, exklusiv durch ethisch-intellektuelle Tüchtigkeit begründet. Nur der durch perfekte Realisierung von ethischer Tugend und praktischer Vernunft ausgezeichnete Beste bzw. die wenigen Besten würden regieren dürfen. Man hätte eine royalistische oder aristokratische Ordnung. De facto befindet sich die Polis-Welt jedoch im Zustand gründlicher Unordnung. Schuld daran trägt der weitverbreitete Mangel an Moral und praktischer Vernunft, der dafür sorgt, dass die ethisch-intellektuelle Tüchtigkeit weder als alleinige noch als die zumindest wichtigste Partizipationsvoraussetzung fungiert. Gerade in den beiden am häufigsten vorkommenden Polis-Formen dominieren denn auch ganz andere Kriterien: Die Oligarchien lassen an der Polis-Leitung nur den partizipieren, der über ein erhebliches Quantum an Besitz verfügt. Sie basieren damit auf einem rein ökonomischen Prinzip. Die Demokraten erheben dagegen die freie Geburt zum Kriterium, was, da die meisten Freien arm sind, faktisch dazu führt, dass in der Demokratie die vielen freien Armen herrschen. Die Demokratie beruht so im Kern auf zwei Prinzipien: dem genealogischen der freien Herkunft und dem ökonomischen der Armut. Die Ökonomisierung des Politischen ist ebenso verbreitet wie schädlich. Sie behindert nicht nur die Realisierung von ethisch-intellektueller Tugend, sondern verursacht zudem eine endlose Kette von Zwistigkeiten, Umsturzversuchen und Bürgerkriegen, widerstreitet also dem Wesen der Polis qua Gemeinschaft. Dem kann und muss der politische Theoretiker entgegenwirken, indem er aus einer umfassenden Analyse der vorhandenen Gegebenheiten Strategien zu deren Verbesserung entwickelt, die der aktive Politiker dann in die Praxis umsetzt. Im konkreten Fall bedeutet dies vor allem zweierlei: Zum einen muss die in den real existierenden Verfallsformen durchaus noch präsente ethisch-intellektuelle Tüchtigkeit zu politischer Geltung gebracht und via Erziehung gestärkt bzw. vervollkommnet werden. Zum anderen muss man von den faktisch geltenden Partizipationskriterien ausgehen, die ökonomische Kluft zwischen den wenigen Reichen und den vielen Armen jedoch ausgleichen bzw. neutralisieren, indem man dafür sorgt, dass möglichst viele Bürger über einen mittleren Besitz verfügen und dieser breite Mittelstand den Extremgruppen der Reichen und Armen quantitativ weit überlegen ist (Pol., IV 11-12)Fazit: a) Die Politik darf sich nicht von der Ökonomie reglementieren lassen, muss aber, um sich nicht in moralisch-intellektuell zwar berechtigten, praktisch aber effektlosen Appellen oder utopischen Postulaten zu erschöpfen, die gegebene ökonomische Situation in Rechnung stellen. b) Damit der Mensch seine Natur verwirklichen und die politische Gemeinschaft ihr Ziel erreichen kann, hat Politik nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, die ökonomische Sphäre zu strukturieren und zu dominieren. c) In Verlängerung der aristotelischen Theorie folgt daraus für die Ära der Globalisierung, dass internationale Politik weltweit für eine gerechtere Einkommensverteilung und die Schaffung eines breiten bürgerlichen Mittelstandes zu sorgen hat.

aus: Frankfurter Hefte/ Die neue Gesellschaft, Band 6/ 1998

Zum Autor: Dr. Andreas Kamp, Jahrgang 1953, lehrt Politische Theorie am Forschungsinstitut für Politische Wissenschaft und Europäische Fragen der Universität zu Köln

e-Mail: dr.andreas.kamp@t-online.de


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