METANASTIS
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Die aristotelische Theorie der Tyrannis
Von Dr. Andreas Kamp (Mülheim an der Ruhr)
1. Allgemeine Topologie der Tyrannis innerhalb der Theorie der Bürgerschaft1
Durch die gesamte Theorie der Bürgerschaften
in der ,,Politik“ halten sich die aristotelischen Grundqualifikationen der
Tyrannis konsequent durch: ,,Tyrannis“ ist 1) die despotische, d.h. nur auf
Nutzen des an der Polis-Spitze stehenden Einen Mannes abzielende Gestalt der
Monarchie;2 sie bildet damit die Parekbasis der Baseileia und daher
die schlechteste Politeia überhaupt.3 Tyrannis ist 2) ihrem Wesen
nach identisch mit den übelsten Verfallsformen von Demokratie -,,extreme“
oder ,,äußerste“ Demokratie - und Oligarchie - ,,Dynasteia“ - und
vereinigt in sich deren Schlechtigkeiten.4 Aristoteles geht sogar
soweit zu sagen, sie sei - wie die übrigen Parekbaseis - ,,gegen das Wesen“
der Polis entstanden.5
Dies alles, so muss freilich sofort hinzugefügt
werden, gilt lediglich von einer bestimmten Erscheinungsform von Tyrannis,
derjenigen, die Aristoteles die eigentliche Tyrannis nennt6 und die er von zwei
,,uneigentlichen“ Spielarten abgrenzt, nämlich der frühgriechischen
Aisymneten-Polis und der bei Barbaren bestehenden Monarchie-Form.7
Diese königlich-tyrannischen Zwitter8 können jedoch im folgenden
unberücksichtigt bleiben, denn nicht eigentlich sie stehen im Tyrannis-Kapitel
zur Verhandlung, sondern vielmehr die ,,eigentliche“ Tyrannis.9
Aus den beiden oben genannten zentralen
Qualifikationen der Tyrannis resultiert aber auch der systematische Ort ihrer
Betrachtung im Ganzen der aristotelischen Politeia-Theorie: Weil die Tyrannis 1)
die schlechteste aller politischen Ordnungen darstellt, bildet ihre Analyse eine
Abhandlung über die vollendete Polis-Unordnung.
In dieser Hinsicht liefert das Tyrannis-Kapitel
das Gegenstück zur Betrachtung der vollkommenen oder besten Polis-Ordnung, d.h.
zur Pambasileia und Panaristokratie10. Weil nun schon bei oberflächlicher
Lektüre der ,,Politik“ auffällt, dass die Darlegung der Lebensweise einer königlichen
Politeia fehlt und außerdem auch der Bios einer wirklich aristokratisch
geordneten Polis weitgehend im Dunkeln bleibt, erweist sich die
Tyrannis-Abhandlung über die exklusiv auf die Tyrannis selbst bezogenen
Einsichten hinaus als unverzichtbarer Bestandteil der uns erhaltenen
,,Politik“: Da aus dem tyrannischen Bios als negativer Folie Grundzüge der königlich-aristokratisch
geordneten Politeia erkannt werden können, wird der Verlust der ihnen
gewidmeten Betrachtung wenigstens rudimentär ausgeglichen.
Weil die Tyrannis 2) mit den extremen
Erscheinungsformen der übrigen Parekbaseis dem Wesen nach identisch ist und sie
die anderweitig verstreut auftretender Unordnungs-Phänomene in sich vereinigt,
erfahren wir in ihrer Analyse zugleich Wesentliches über die Lebensführung von
demokratischen und oligarchischen Poleis.
Die Tyrannis-Analyse präsentiert sich daher
als Theorie von allgemeiner und vollkommener politischer Unordnung, als der
Kristallisationspunkt, in dem die sonst verstreuten Phänomene von Unordnung
zusammenfließen und zu ihrem Höhepunkt gesteigert werden, aus dem heraus dann
jedoch zugleich Grundlinien der an sich besten Politeia erkannt werden können.
Sie rundet deshalb inhaltlich die ,,Politik“11 mit der Darstellung
maximaler Schlechtigkeit einerseits ,,nach unten“ als Theorie der minimalen
Realisierung menschlichen Wesens ab, bietet damit aber zugleich die Möglichkeit,
Einsichten in die Struktur und Lebensweise der an sich besten Polis zu gewinnen.
2. Die tyrannische Polis
Die Analyse des Bios einer tyrannischen Polis
entwickelt Aristoteles im Rahmen seiner Stasis-Theorie, d.h. er untersucht,auf
welche Art eine Tyrannis sich gegen ihre Vernichtung von innen heraus absichern
kann.
Aristoteles sieht zwei grundverschiedene Möglichkeiten,
die er dann, jede für sich abgeschlossen, und daher eine Zweiteilung des
Tyrannis-Kapitels vornehmend, im folgenden auseinanderlegt: Die Tyrannis kann 1)
auf traditionelle Weise erhalten werden12. In diesem Fall
kann man auf einen reichen Fundus von Maßnahmen rekurrieren, die von einzelnen
Tyrannen durchexerziert wurden, die im wesentlichen aber auf Periander13
zurückgeführt werden können. Die Tyrannis kann man 2) dadurch bewahren, dass
der Tyrann ,,königlicher“ wird14. Für diese Art der Erhaltung
gibt Aristoteles keine historischen Beispiele an15. Es handelt sich
bei ihr, grob gesagt, um den Rat der Theorie an die Praxis, mittels dessen
Befolgung allein zu erreichen ist, wovor die traditionelle Praxis, die eben an
der Kurzlebigkeit der Tyrannis nichts zu ändern vermochte16,
versagte.
Während also der traditionelle - und
erfolglose - Weg die Möglichkeit bietet, das Wesen der Tyrannis und ihrer
Handlungen offenzulegen, wobei diese Entdeckung offenbar den Begriff der
Tyrannis aus einer empirisch fundierten Analyse des historisch Verfindbaren
entwickelt - womit zugleich der Bios einer königlichen Polis lediglich implizit
dargelegt wird-, gewährt uns die spezifisch aristotelische Vorgehensweise
zugleich auch direkte Einblicke in die Struktur und Lebensweise der Basileia.
Vor der Konzentration auf die traditionellen Maßnahmen
scheint mir allerdings ein Hinweis auf die Begrifflichkeit des ganzen
Tyrannen-Kapitels wesentlich: Aristoteles vermeidet es peinlich und aus gutem
Grund, die tyrannisch Beherrschten als ,,Bürger“ zu bezeichnen; er nennt sie
entweder ,,Einheimische“ oder ,,Beherrschte“17. Es
handelt sich dabei keineswegs um eine nebensächliche Spitzfindigkeit, sondern
um eine Terminologie, in der der wesentliche Sachverhalt auf den politischen
Begriff gebracht wird: In einer tyrannischen Polis existieren keine Bürger -
und demzufolge kann man auch nicht von tyrannischer Politeia sprechen. Wenn
Aristoteles sagt, die Tyrannis sei eigentlich am wenigsten überhaupt eine
Politeia18, dann hat er genau diesen Punkt im Auge: Wo es keine ,,Bürger“
gibt, sondern nur ,,Beherrschte“ oder ,,Einwohner“, da kann auch nicht von
,,Bürgerschaft“ gesprochen werden; jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne,
sondern lediglich noch in homonymer Weise. Die Minimalität von Bürgerschaft-Sein
und die Verweigerung des Begriffs ,,Bürger“ für die von tyrannischer
Herrschaft Betroffenen bringen so, einander ergänzend, denselben Sachverhalt
einmal vom Einzelnen und einmal vom Allgemeinen her gesehen zur Sprache.
Alle traditionellen Maßnahmen des Tyrannen
fasst Aristoteles in drei Kategorien zusammen19: Die Tyrannis
strebt als Ziele die Mikropsychia, das gegenseitige Mißtrauen und die
Handlungsunfähigkeit der Beherrschten an. Sie läßt damit, wie Aristoteles
selbst sagt, keine Schlechtigkeit aus. Verfolgt man die Einzelbestimmungen, dann
ergibt sich ein erstaunliches Register dieser Schlechtigkeiten, die Aristoteles
nach der Grunddifferenzierung von Oikos und Polis im A der „Politik“ auch im
E11 in einen politischen und einen ökonomischen Bereich aufgliedert20.
Im Oikos21 herrscht die Frau, der u.
a. die Aufgabe zufällt, den ,,Haus-Herren“ auszuspionieren. Sklaven erfreuen
sich großzügiger Behandlung. Der eigentliche Sklave des in der Tyrannis
bestehenden Oikos ist der ,,Haus-Herr“. Diese Verkehrung der vernünftigen ,,ökonomischen“
Ordnung hält Aristoteles für Tyrannisimmanent konsequent: Der Oikos muß in so
schlechter Verfassung sein, weil der Tyrann von Frauen und Sklaven wenig, von
den eigentlichen Haus-Herren jedoch alles zu fürchten hat. Um sich selbst also
zu schützen, macht der Tyrann im Oikos diejenigen zu Herren, die von sich aus
nicht oder nicht autonom und vollständig über Phronesis verfügen können, und
untergräbt die Position derer, die dazu allein in der Lage sein könnten. Um
sich zu retten, verkehrt der Tyrann das dem Wesen des Menschen entsprechende und
auf seine graduell abgestufte Realisationsweise gegründete häusliche
Ordnungsgefüge.
Dieselbe Verlängerung in die Ebene des Oikos
hinein reproduziert sich im Verhältnis Mann-Frau: Der Tyrann untergräbt die
eheliche Gemeinschaft22. Indem er die Frau zum Spitzel im Oikos
macht, ruiniert er Vertrauen, Liebe und jegliche Form wirklicher Gemeinsamkeit,
so daß er damit in den zwei von der Polis umfaßten Gemeinschaften Ehe und
Oikos jegliche wesentlich menschliche Beziehung aufhebt. Tyrannis bedeutet schon
auf diesen Ebenen totale Desintegration und Verhinderung von Mensch-Sein.
Soweit die von Aristoteles skizzierten
Auswirkungen tyrannischer Praxis im Bereich des Oikos. Da sie im Rahmen seiner
Darstellung der traditionellen Praxis auftreten, könnte man sie leicht als rein
empirische Bestandsaufnahme des historisch Vorfindbaren betrachten23.
Wie ein Blick auf das historische Material zeigt, ist Aristoteles’
Theorie genau das nicht24. Nach allem, was wir an Quellen
besitzen, läßt sich zunächst für die ältere Tyrannis - bemerkenswerterweise
zitiert Aristoteles mit Periander ja gerade einen ihrer Vertreter als Urheber
der meisten tyrannischen Praktiken - festhalten, daß sie keinerlei
organisiertes demoralisierendes Eingreifen in die bürgerliche Privatsphäre
kennt. Oikos und Ehe waren quasi tabu oder wurden - wiederum vor allem von
Periander25 - sorgfältig gegen Desintegration geschützt. Die ältere
Tyrannis beschränkte ihre Aktivitäten allein auf die politische Ebene. Die jüngere,
von Aristoteles selbst beobachtbare Tyrannis mit Syrakus als Paradigma verfuhr
zwar auf politischer Ebene nach allen Regeln demoralisierender Kunst, Oikos und
Ehe blieben jedoch auch in ihr merkwürdig unberührt26. Es gibt eben
,,kein grundsätzliches Eingreifen in die private Lebenssphäre der
Untertanen“27. Wenn Aristoteles dennoch Tyrannis als totalitär
begreift und, ohne historisch-empirische ,,Fakten“ zu besitzen, schon die
zwischenmenschlichen Bezüge innerhalb des Oikos als von der Tyrannis betroffen
und depraviert erkennt, dann weiß er nicht nur, wie A. Heuss sagt28,
mehr als er -empirisch - überhaupt wissen konnte, dann ist vor allem seine
Theorie alles andere als eine bloß empirische Bestandsaufnahme traditioneller
historischer Praktiken. Man kann aber hinsichtlich der Auswirkungen der Tyrannis
auf den Oikos sogar noch nicht einmal davon sprechen, das historisch Vorfindbare
sei der Anstoß seiner Theorie gewesen. Hier läßt sie sich nicht nur ,,im
Grunde an den griechischen Verhältnissen nicht verifizieren“29, es
handelt sich vielmehr um eine allein die vollendete Gestalt der Konsequenzen
tyrannischer Praxis zur Sprache zu bringende Wesenseinsicht, wobei deren
Kategorien, wie A. Heuss völlig zu Recht hervorgehoben hat30, aus
der aristotelischen Psychologie stammen. Der ,,vollkommene“ Tyrann, so kann
man sagen, hätte tun müssen, was Aristoteles ausführt, bloß: keiner tat’s.
Zentrum des „traditionellen“ Tyrannis-Teils
ist jedoch für Aristoteles nicht das Ökonomische, sondern das eigentlich
Politische31, und wiederum sind es weniger die vereinzelten
instrumentellen Maßnahmen die ihn beschäftigen als vielmehr die
psychologischen Resultate tyrannischer Praxis überhaupt.
Weil seine Herrschaft per se nur unfreiwillig
hingenommen wird, zielen alle politischen Maßnahmen auf die oben genannten
Hauptziele. So bekämpft und beseitigt er diejenigen, die irgendwie aus der
Menge hervorragen. Dieses Hervorragen wird von Aristoteles hier nicht näher
spezifiziert, kann sich jedoch nach den Ausführungen von Γ932
auf mehrere Faktoren stützen: Reichtum, Freiheit, Herkunft und Tüchtigkeit. Daß
Aristoteles in erster Linie an die zuletzt genannte Qualifikation denkt, wird
aus den späteren Erklärungen deutlich. Ausdrücklich erwähnt er die ,,Anständigen“33,
d.h. diejenige Gruppe von Menschen, die immerhin ein erhebliches Maß an
spezifisch menschlicher Tüchtigkeit verwirklicht. Diese bekämpft der Tyrann,
weil sie sich a) nicht despotisch beherrschen lassen wollen und b) sich selbst
und anderen vertrauen. Um sein Ziel zu erreichen, läßt der Tyrann sich einiges
einfallen: Er verbietet Syssitien, Hetairien, Erziehung und festliche Zusammenkünfte
aller Art, wobei das Verbot der Hetairien zur politischen, der
Festveranstaltungen zur kulturellen, der Paideia zur individuellen Verkümmerung
der von ihm Betroffenen führt34. Das Resultat dieser Maßnahmen
besteht also in der Aufhebung bürgerlicher Gemeinschaft und allein durch
Erziehung erreichbarer Realisierung menschlicher Tüchtigkeit35.
Vergleicht man nun mit dieser Schilderung die für uns einsehbaren historischen
Verhältnisse, dann wird, wie etwa das Beispiel der Feste demonstriert, erneut
offensichtlich, daß es sich hier keineswegs um eine historisch exakte
Darstellung tatsächlich allgemein geübter Praktiken handelt, denn das höchste
Fest Athens, die Panathenäen, geht auf die Tyrannis des Peisistratos zurück,
unter Periander entstehen in Korinth die Isthmien und das Dionysos-Fest holt
wiederum Peisistratos nach Athen36. So widerspricht die Theorie
kulturpolitischer Aktivitäten der Tyrannis geradezu den historischen Realitäten.
Verständlich ist diese ,,Ignoranz“ angesichts der für Aristoteles ja leicht
erkennbaren tatsächlichen Ereignisse nur unter einer Bedingung: daß es eben
gar nicht um faktische Exaktheit, sondern um die gegen historische Faktizität
weitgehend, manchmal auch völlig gleichgültige Erkenntnis des Wesens
tyrannischer Herrschaft geht; daran würde sich im Prinzip auch nichts ändern,
wenn man die jüngere Tyrannis als historische Quelle der aristotelischen
Theorie auffassen würde, denn dann wäre Aristoteles ja mindestens von der
empirisch gar nicht ableitbaren Erkenntnis ausgegangen, daß deren Praktiken dem
eigentlich tyrannischen Wesen besser als diejenigen der älteren Tyrannis entsprächen,
so daß ,,Empirie“ in diesem Fall lediglich eine nachträgliche faktische Bestätigung
der philosophischen Theorie wäre.
Zu beachten ist im oben angesprochenen
Zusammenhang auch ein zweiter Aspekt, der die Tyrannis, gerade weil er
substantiell diese nicht alleine betrifft, als Gipfel allgemeiner Schlechtigkeit
ausweist. Wenn der Tyrann Paideia verhindert, dann treibt er allgemein
vorhandene Mißstände lediglich auf die Spitze, denn ansonsten kümmern sich
die wenigsten Poleis überhaupt um die Erziehung ihrer Bürger37.
Ihre Nachlässigkeit steigert der Tyrann bewußt zum Prinzip und geht damit der
Menschlichkeit des Menschen ebenso an die Wurzel wie durch das Verbot von
Hetairien und ähnlichen Zusammenkünften.
Ein weiteres Ziel tyrannischer Maßnahmen
besteht in der Verhinderung von ,,Muße“. Deren Mittel sind schnell rubriziert38:
Man muß die Menschen arm machen und sie dauernd in Beschäftigung halten. Der
erste Trick führt dazu, daß die Betroffenen ständig mit der Besorgung der
Lebensnotwendigkeiten ausgelastet werden, die zu einem Aufstand benötigten
Finanzen fehlen und der Tyrann sich selbst durch Enteignung von Privatbesitz den
notwendigen finanziellen Spielraum sichert. Füllt die Beschaffung des zum bloßen
Leben Notwendigen die Zeit der Beherrschten nicht aus, helfen dem Tyrannen deren
Zwangsarbeit an öffentlichen Bauten und permanente Kriegsführung aus seiner
Malaise. Die Menschen sind ständig beschäftigt und bedürfen eines Führers.
Der Tyrann macht sich unentbehrlich.
Die kriegerische Nuance der Tyrannis läßt für
sich genommen bereits tief blicken. Kriegslüstern ist ansonsten nur der άπολις39
und der Krieg als solcher stellt für Aristoteles lediglich ein u. U.
notwendiges Übel dar, ein Mittel zur Erhaltung politischer Freiheit40.
Der Tyrann eliminiert den eigentlichen Zweck: für diesen άπολις
in der Polis dient der Krieg nur noch zur Bewältigung prinzipiell nicht lösbarer
innenpolitischer Probleme, d.h. Krieg wird zu einem Mittel des innenpolitischen
Krisenmanagements und innere Probleme werden durch ihre mutwillige Entladung
nach außen kaschiert. Die tyrannische Polis präsentiert sich daher als direkte
Existenzbedrohung auch der anderen Poleis.
Damit aber noch nicht genug. Wenn, wie
Aristoteles annimmt, ,,Muße“ die Voraussetzung für politische Betätigung
und Philosophie ist41, dann hebt deren Beseitigung nicht nur die Möglichkeit
politischer Praxis auf, sondern wesentlich auch die der Philosophie. Der Tyrann
ist nicht nur der natürliche Feind des an und für sich guten Bürgers, sondern
ebenso der des Philosophen. Indem er bürgerliche Freiheit beseitigt und die
menschliche Natur, die nach dem Einleitungssatz der ,,Metaphysik“ darauf
gerichtet ist, Einsicht zu erlangen, so gut er eben kann in ihrer Aktualisierung
behindert, erweist der Tyrann sich selbst als personifizierte Unvernunft, als
Unmensch, der jegliches wirkliche Mensch-Sein untergräbt und den beiden
paradigmatischen Realitätsweisen, dem Phronimos und dem Philosophen, den Boden
entzieht. Die tyrannische Polis ist für Aristoteles notwendig auch die
unphilosophische Polis, in der die noetische Ausbildung des Menschen konsequent
verhindert wird.
Aristoles versteht auch in dieser Hinsicht
tyrannische Herrschaft offensichtlich als total: Sie verhindert nicht nur gute bürgerliche
Praxis und,was daher nahe liegt,politische Theorie, sondern philosophische
Theorie schlechthin, d.h. vor allem: Erste Philosophie. Dieser Begriff der
tyrannischen Polis als einer geistverlassenen menschlichen Gemeinschaft
impliziert andersherum betrachtet, daß auch die theoretische Philosophie vom
Vorhandensein bestimmter politischer Ordnungsformen als Bedingung ihrer eigenen
Möglichkeit abhängt. Dieser Sachverhalt hat zumindest eine wesentliche
Konsequenz für die Position des Philosophen zur Polis: Ihm kann die Art der
politischen Ordnung nicht gleichgültig sein, weil seine Tätigkeit nur in
bestimmten Bürgerschaften überhaupt möglich ist. Philosophische Theorie muß
sich, um selbst realisierbar zu bleiben, um die politischen Angelegenheiten kümmern.
Für den ,,Metaphysiker“ heißt dies, daß er entweder selbst politisch tätig
werden und/oder politische Philosophie betreiben muß, um dafür Sorge zu
tragen, daß ihm die Ausführung der theoretischen Philosophie wenigstens nicht
unmöglich gemacht wird. Theoretische Philosophie bedarf gewissermaßen der
politischen Theorie und der bürgerlichen Praxis, um ihre eigene Seinsmöglichkeit
zu gewährleisten. Betrachtet man nun die aristotelische Tyrannis-Theorie unter
dem Aspekt Muße und Philosophie vor ihrem historischen Hintergrund, fallen
einem zunächst natürlich die sizilianischen Unternehmungen Platons und ihr
Niederschlag in den platonischen Briefen ein. Feindschaft gegen die Philosophie
erscheint dann als ein spezifischer Wesenszug der Tyrannei. Allerdings sind
Vorbehalte geboten: Die wirklich extremen Auswüchse von
Philosophiefeindlichkeit findet man erstaunlicherweise nämlich in der radikalen
athenischen Demokratie. Anaxagoras, eine ganze Reihe von Sophisten und Sokrates
hatten sich vor dem Demos in Sicherheit zu bringen, und es war das Theater
Athens, in dem die ,,Wolken“ des Aristophanes den Sokrates verhöhnten - und
prämiert wurden. Sicherlich ist es begründet, diese Einstellung als
aggressiven Reflex zu betrachten, der seine Wurzeln in den Ereignissen des
Peloponnesischen Krieges hatte, allgemein aber läßt sich feststellen, daß der
Demos anti-philosophisch ausgerichtet war42. Die aristotelische
Monopolisierung antiphilosophischer Tendenzen beim Tyrannen entspricht deshalb
keineswegs den realen Zuständen.
Das gewohnte Bild bietet sich allerdings auch,
wenn man die oben erwähnten einzelnen Maßnahmen auf ihre historische
Verankerung hin betrachtet. Man kann zwar mit Recht sagen, Außenpolitik
entstehe als Aufgabenkreis erst während der - älteren – Tyrannis43,
und auf ihren imperialistischen Grundzug hinweisen44, insgesamt aber
waren, wie ein Blick auf die griechische Geschichte seit Platää zeigt, vor
allem Demokratien und Oligarchien bzw. Demokraten und Oligarchen in nahezu ständigen
kriegerischen Auseinandersetzungen begriffen. Mindestens waren Kriege kein
Charakteristikum allein der Tyrannis; deren Monopol freilich gar nicht. Was die
Armut der Beherrschten betrifft, so ist Aristoteles’ Darstellung geradezu grob
falsch45, so daß erneut deutlich wird, daß es Aristoteles in diesem
1.Teil des Tyrannis-Kapitels überhaupt nicht um minutiöse Faktensammelei
gegangen ist und seine Einsichten über das Wesen tyrannischer Herrschaft eben
nicht aus einer exakten empirischen Bestandsaufnahme des historischen
,,Materials“ stammen.
Das für eine
vernünftig geordnete politische Gemeinschaft unerläßliche Vertrauen zwischen
den Bürgern zerstört der Tyrann vor allem auf zwei Wegen: Einerseits
provoziert er nach Kräften Streit zwischen den Beherrschten, andererseits
strebt er nach totaler Kontrolle und Kenntnis ihrer Handlungen und Gedankeri46.
Die bewußte Zerstörung von Homonoia(Ομόνοια)
zwischen den Beherrschten, die selbst nichts anderes ist als der Ruin von
menschlicher Gemeinschaft überhaupt, verlängert lediglich in die Relation der
Untertanen untereinander hinein, was zwischen Tyrann und Beherrschten ohnehin
besteht47. Gerade weil zwischen Herrscher und Beherrschten keine
wirkliche Eintracht besteht, muß dem Tyrannen natürlicherweise daran gelegen
sein, jede Form von Gemeinsamkeit auch innerhalb der Tyrannisierten zu
unterbinden, denn Gemeinschaft zwischen den Untertanen ist für die tyrannische
Herrschaft gefährlich, weil sie Macht akkumuliert und eventuell der Macht des
Tyrannen überlegen werden könnte. Dazu kann er die Beherrschten jedoch nur
bringen, indem er sie durch Bespitzelung und die bewußte Provokation von Streit
untereinander in eine Situation zwingt, die einem permanenten Belagerungszustand
entspricht. Aber: Nicht nur belagert der Tyrann alle anderen, diese stützen
seine Herrschaft, indem sie sich selbst untereinander belagern. Die Zerstörung
von freier Rede und Handlung läßt aus den Betroffenen atomisierte Individuen
werden, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen, und die tyrannische
Polis wird zu einer Veranstaltung, an der nur noch Menschen teilnehmen, die als
Mit-Menschen allseitig depraviert sind. Im Endeffekt beherbergt sie nur noch die
eine unterste Stufe von Mensch-Sein, den άπολις, also genau das Phänomen, das Hobbes später als das Wesen des
Menschen überhaupt ansah: den Menschen, der des Menschen Wolf ist.
Dieser Zerschlagung aller wirklichen
zwischenmenschlichen Beziehungen korrespondiert die Zerstörung von φρόνημα
im Hinblick auf den einzelnen Menschen. Aristoteles nennt keine Maßnahmen, die
der Tyrann zur Zerstörung und Verhinderungen von φρόνημα
bei seinen Untertanen in Anschlag bringt, doch können hier alle Mittel
eingesetzt werden, die zur Aufhebung von zwischenmenschlichem Vertrauen führten.
Der Effekt bzw. das Ziel aller tyrannischer Bestrebungen kommt allerdings
mehrfach zur Sprache48: das μικρόν φρονείν
der
Beherrschten.
So offenbart sich tyrannische Herrschaft als
vollendet totalitär: Sie bekämpft nicht nur politische Gemeinschaft als
solche, Philosophie, kulturelle Identität, freie Verbindung in Hetairien, den
Oikos und die Ehe, sondern bewußt und gezielt auch das Mensch-Sein des
einzelnen Menschen. Ein kurzer Blick in die ,,Nikomachische Ethik“ läßt die
fundamentelle politische Rolle des φρόνημα und damit das Ausmaß dieses Zerstörungsprozesses
deutlich werden49.
Die Mikropsychia oder das μικρόν φρονείν, von dem die ,,Politik“ sprach, begreift
Aristoteles hier als eine der beiden Verfallsformen zur Megalopsychia; und zwar
als die schlimmere und weiter verbreitete50. Mikropsychos ist
derjenige Mensch, der sich selbst nicht kennt und wegen dieser mangelhaften
Selbstkenntnis auf Praxis weitestgehend verzichtet51. Mit der
Ersetzung des φρόνημα durch das μικρόν
φρονείν,
das heißt: der Selbsterkenntnis und der aus ihr resultierenden richtigen
Selbsteinschätzung durch Unkenntnis über die eigenen Qualitäten und dem
daraus folgenden ängstlichen Handlungsverzicht, erreicht der Tyrann also
gleichzeitig eines seiner zentralen Anliegen: die Handlungsunfähigkeit seiner
Untertanen. Wesentlich hieran scheint mir allerdings, daß die Handlungsunfähigkeit
eben nicht, wie die ,,Politik“ etwas grob nahe legt51, aus
Mangel an verfügbaren Machtmitteln entsteht - also nicht z. B. auf Armut etc.
basiert-, sondern primär eine Konsequenz aus einem selbst wieder durch
noetische Defizienz begründeten Handlungsverzicht darstellt, so daß zwar auch
fehlende Macht eine Rolle spielen mag, die noetische Deformation des einzelnen
Menschen jedoch den entscheidenden Grund hergibt. Wer von vornherein wegen
mangelhafter Selbstkenntnis auf Praxis verzichtet - modern gesprochen: sich
ver-hält-, der wird auch dann nicht handeln, wenn er über die nötige Macht
physischer, militärischer oder sonstiger Art verfügen kann.
Daß die von Aristoteles als entscheidend
vorgeführte Dependenz politischer Ohnmacht von der noetischen Deformation des
sich nur noch ver-haltenden einzelnen Menschen den Einsichten seiner Psychologie
entstammt und gerade nicht aus den historisch vorfindbaren ,,Fakten“ abgezogen
sein kann, liegt auf de Hand.
Weil aber das begründete und durch seine persönliche
Phronesis gegebene Selbstbewußtsein des Megalopsychos bei Aristoteles die
wesentliche Grundlage von wahrer Freundschaft darstellt, entlarvt die
tyrannische Frontstellung gegen den Megalopsychos sich zugleich als Kampf gegen
Freundschaft und Homonoia oder, wie die ,,Politik“ sagte, Vertrauen53.
Aristoteles begreift die für eine tyrannische
Polis charakteristische Entfremdung der einzelnen Menschen voneinander als eine
notwendige Konsequenz ihrer Selbstentfremdung, d.h. ihrer personalen
Schizophrenie. Die aristotelische φιλία-Abhandlung
in der NE bringt diesen Sachverhalt unmißverständlich zur Sprache(Vollkommene
Freundschaft kann für Aristoteles nur zwischen Menschen bestehen, die
Megalopsychos/Phronimos sind54. Diesen bestimmt die
Freundschaftsabhandlung nun auf bemerkenswerte Weise: Der Tugendhafte ist
derjenige Mensch, der mit sich selbst übereinstimmt und mit seiner ganzen Seele
auf das Gute abzielt wobei seine Identität wiederum noetisch fundiert ist55.
Freundschaft mit anderen Menschen wiederum resultiert aus der Freundschaft qua
Übereinstimmung mit sich selbst56, menschliche Gemeinschaft daher im
Grunde aus der noetischen Identität ihrer vernünftigen Mitglieder.
Gegen die einheitliche, vom Nous her und auf
ihn hin geordnete Seele des Phronimos setzt Aristoteles die Psyche des
schlechten Menschen57. Dieser lebt im Zustand permanenter personaler
Stasis: Das eine wollend, das andere tuend, ist er ständig auf der Flucht vor
sich selbst, empfindet keine Freundschaft zu sich und kann also auch niemals mit
anderen wirklich befreundet sein. Vor diesem Hintergrund erscheint der
Mikropsychos als schizophren, weil er permanent nicht tut, was er tun könnte. Während
der Schlechte auf Grund seiner Schlechtigkeit nicht gut handeln kann, reduziert
der Mikropsychos sich selbst aus Angst. Ängstliches und schlechtes Bewußtsein
laufen jedoch eben auf dasselbe Resultat hinaus: die Unfähigkeit zu gutem
Handeln und Reden, zu wirklicher Freundschaft und Vertrauen.
Genau dies Ziel aber strebt der Tyrann an.
Einerseits versucht er, das Selbstbewußtsein, die noetische Identität und die
Übereinstimmung der ganzen Seele mit sich selbst zu zerstören und seine
Untertanen auf die Stufe des Mikropsychos herabzudrücken, andererseits ruiniert
er mit der Repression des Selbstbewußtseins die Fähigkeit zu
zwischenmenschlichen, vernünftigen Beziehungen und provoziert so die Existenz
von Menschen, die sich selbst und als Konsequenz daher auch anderen entfremdet
sind. Die vom Tyrannen systematisch durchgeführte Unterdrückung des Nous führt
zu einer Polis, die von lauter schizophrenen Mitgliedern gebildet wird, in der
der Verrückteste die Macht monopolisiert und erfolgreich alle übrigen
Teilnehmer psychisch gleichfalls ruiniert hat.
Auf die Spitze treibt Aristoteles diese Tendenz
tyrannischer Machthaberschaft, wenn er den Tyrannen als denjenigen bezeichnet,
der die schlechten Menschen liebt58, also nicht nur das ängstliche
Bewußtsein in Form des Mikropsychos, sondern den ständig mit sich selbst im
Streit befindlichen Menschen, dessen Seele gegen die noetische Fundierung ankämpft
und dessen Ziele von den ungebundenen Leidenschaften gesetzt werden, der
gleichsam noch nicht einmal Mikropsychos ist.
Angesichts dieser wahrhaft furchtbaren Theorie
muß freilich auch auf die Grenzen tyrannischer Einflußmöglichkeiten
hingewiesen werden. Der Tyrann kann zwar das Mensch-Sein des Menschen auf allen
Ebenen zerstören und den Einzelnen zu einem atomisierten, sich nur noch
verhaltenden Individuum ohne geistige Identität und freundschaftliche Bezüge
zu anderen Menschen machen, aber den schlechten Menschen oder den Mikropsychos
bereits als solchen hervorzubringen, lag für Aristoteles selbstverständlich völlig
jenseits tyrannischer Macht. Die Möglichkeiten, die sich den modernen
,,Wissenschaften“ eröffnen und wohl noch eröffnen werden, konnte ein Grieche
allerdings gewiß nicht befürchten.
Seinen Optimismus bezieht Aristoteles jedoch
wohl nicht aus dem von ihm gar nicht bedachten Bereich sozusagen ,,wissenschaftlich“-physischer
Beschränkung tyrannischer Macht, sondern aus historischer Beobachtung: die
Tyrannis hat sich niemals und nirgendwo lange zu behaupten vermocht59
und die Anzahl von tyrannisch beherrschten Poleis ist zurückgegangen60.
Wenn aber Aristoteles auch den Aspekt der chronologischen Begrenztheit durch
zahlreiche historische Verweise stützt, so bilden diese geschichtlichen
,,Tatsachen“ doch keineswegs die eigentliche Basis für die optimistische
Einschätzung, denn die bezieht er aus einer völlig anderen, rein theoretischen
Quelle, für die die historischen ,,Fakten“ als willkommene Illustration
anzusehen sind.
In der ,,Rhetonk“61 bemerkt
Aristoteles, die - historisch eben nicht auffindbare -beste Politeia sei frei
von Stasis, und in der ,,Politik“ heißt es, die ,,Politeia“ genannte Bürgerschaft
sowie die sogenannten62 Aristokratien, die sämtlich in der
politischen Wirklichkeit nur als Ausnahmerscheinungen vorkommen63,
vergingen deshalb, weil sie von der Tugend und Gerechtigkeit schlechthin
abwichen64. Wenn mangelhafte praktisch-politische Einsicht und
entsprechendes Handeln die zentrale Ursache für den Zerfall von Bürgerschaften
darstellen und frei von Stasis nur die schlechthin vernünftig geordnete Polis
bleibt, dann resultiert eben die chronologische Begrenztheit der Tyrannis für
Aristoteles wesentlich aus ihrer noetischen Defizienz.
Andererseits besteht angesichts der
beobachtbaren politischen Verhältnisse doch auch Grund zur Skepsis: Einerseits
muß vor allem mit der Verbreitung der gleich schlechten radikalen Demokratie
gerechnet werden65, andererseits bilden sich die entstehenden
Monarchien immer nur als Tyrannis66. Eine prinzipielle Verbesserung
der politischen Realität ist für Aristoteles also nicht einmal tendentiell in
Sicht. Eher tauscht man die eine schlechte Ordnung durch eine ähnlich oder
gleich schlechte aus.
Vor dem Übergang zur zweiten Art, auf die eine
Tyrannis erhalten werden kann, empfiehlt sich zum Abschluß der Verfolgung des
scheinbar traditionellen Wegs noch ein kurzer Blick auf das E12 der
,,Politik“, mit dem Aristoteles seine Theorie der Tyrannis abrundet. Die oben
vertretene Auffassung, der 1.Teil des E11 sei nicht ,,empirisch“ begründet,
erhält hier nämlich von Aristoteles selbst ihre Bestätigung. Von den Tyrannen
in Sikyon heißt es, sie hätten sich ihren Untertanen gegenüber maßvoll
betragen, für die Belange der Menge gesorgt und sich alles in allem an die
Gesetze gehalten; und dasselbe hätte von den Kypseliden in Korinth gegolten67.
Das Urteil über Peisistratos und dessen Söhne lautet ganz ähnlich68.
Man kann daraus ersehen, daß einige der mächtigsten Tyrannen nach
Aristoteles’ eigener expliziter Würdigung genau nicht so vorgegangen sind,
wie es der 1.Teil des Tyrannen-Kapitels als allgemein geübte und bekannte
Praxis ausgibt. Daß zudem ausgerechnet derjenige, auf den im E11 die meisten
tyrannischen Maßnahmen zurückgeführt werden, im E12 als maßvoll,
gesetzestreu und fürsorglich erscheint, sei lediglich als Aperçu angefügt.
3. Der „königliche“ Tyrann
Im 2. Teil des Kapitels69 trägt
Aristoteles den von ihm selbst entwickelten Weg zur Erhaltung einer Tyrannis
vor: Stabilisierung und Perpetuierung durch Nachahmung der königlichen
Regierung70. Allgemein wird dabei vom Tyrannen ein ,,So-tun-als-ob“
gefordert: Er soll handeln wie ein König71. Das ,,Als-ob“
resultiert dabei daraus, daß der Tyrann natürlich von seinem eigenen Wesen her
kein Phronimos ist und sich daher zunächst nur so geben kann, als wäre er
einer. Er schlüpft also in die Rolle des Gesetzmäßigen, der wie ein Phronimos
handelt, ohne wirklich einer zu sein.
Für ihn wird die königliche Phronesis zu
einem äußeren Kanon von Regeln, dessen Erfüllung einerseits für die gesamte
Polis gute Resultate hervorbringt, andererseits im Laufe der Zeit durch die
entstandene Gewohnheit auch den Charakter des Herrschenden zum Guten hin verändern
wird. Die funktionale Vernünftigkeit, die zunächst nur ein Instrument der
Machterhaltung zu sein scheint, verwandelt, gerade weil sie nicht nur
funktionell-intrumentell zu verstehen ist, den Charakter des Tyrannen.
Betrachtet man die beiden Erhaltungsmöglichkeiten,
dann handelt es sich nicht nur um eine erhebliche qualitative Differenz zwischen
ihnen, sondern um Gegensätzlichkeiten72: Der erste, spezifisch
tyrannische Weg besteht ja darin, tyrannische Herrschaft als solche in
vollendeter Weise durchzuführen. Dieser Perfektion von Schlechtigkeit setzt
Aristoteles sein eigenes Programm entgegen: die Negation tyrannischen Unwesens,
bei dem an die Stelle der Perfektionierung von Untugend oder Unvernunft deren
Reduktion gesetzt wird. Daß dieser Weg besser und vernünftiger ist, liegt auf
der Hand: er beseitigt die naturwidrige Geistverlassenheit der Tyrannis, indem
er das tyrannische Wesen als solches reduziert und schließlich aufhebt.
Es ist allerdings nicht leicht zu sehen, wie
dieser qualitative Umschlag im einzelnen vor sich geht, denn der Schlechte, als
der der Tyrann ja nach den aristotelischen Regeln zu leben beginnt, gehorcht nur
durch Zwang73; den aber kann mangels Macht niemand auf ihn ausüben.
So scheint die einzige Möglichkeit darin zu liegen, den Tyrannen zu überzeugen,
nur auf diese Weise könne seine Herrschaft einige Stabilität gewinnen.
Auf der Basis, daß die Macht auf jeden Fall
festgehalten werden muß74, zielt der den aristotelischen Vorschlägen
folgende Tyrann im allgemeinen auf Anständigkeit, Furchtlosigkeit,
Selbstvertrauen und Freundschaft seiner Untertanen.
Besonders in einer Hinsicht scheint mir hier
die Praxis des ,,königlichen“ Tyrannen wesentlich: Er wird dafür sorgen, daß
die Beherrschten in ,,Muße“ leben können. Mit anderen Worten: die beste
Politeia protegiert nicht nur die politische, sondern auch und wesentlich die
philosophische Betätigung. Die beste Polis erweist sich daher als eine den
Philosophen freundliche Polis, der König als Philosophen-Freund, indem er die
notwendigen Voraussetzungen schafft, die für die Anwesenheit des Philosophen
unerläßlich sind. Ziel dieser Polis ist zwar keineswegs, daß alle Bürger
Philosophen sind, auf jeden Fall jedoch, daß Philosophen in ihr vorhanden sind75.
Weiterhin impliziert die aristotelische Darstellung nicht, daß der König bzw.
die Aristokraten selbst Philosophie treiben müßten oder der Philosoph zum König
würde76, hält jedoch nachdrücklich daran fest, daß die
Verbesserung der bestehenden schlechten politischen Verhältnisse von den
Einsichten des Philosophen abhängt. Die Situation in der Tyrannis macht diesen
Bezug besonders offensichtlich: Ohne die Anleitung des ihn umwendenden
Philosophen ist der Tyrann prinzipiell verloren, hört er auf den Philosophen,
wird die Polis als ganze vernünftiger. Bei Aristoteles ändert sich also zwar
die personale Rollenverteilung - an die Stelle des Philosophen-Königs treten,
sozusagen in prinzipieller Arbeitsteilung, König und Philosoph als zwei
Personen-, nicht aber die leitende Funktion der Philosophie für politische
Praxis.
Betrachtet man die - im übrigen recht
unsystematische - Aufzählung der Maßnahmen, die der Tyrannis-Erhaltung dienen
sollen, mit einigem Abstand, dann zeigen sie den ,,königlichen“ Tyrannen und
den König zunächst als vernünftigen ,,Haus-Herren“77: Ein
beachtlich langer Teil beschäftigt sich mit königlicher Ausgabenpolitik und
die Bezeichnung als ,,Verwalter“ des gemeinsamen Besitzes bringt in dieser
Hinsicht die ökonomische Funktion eines Königs auf den Begriff. Die
Darstellung seiner politischen Tätigkeiten orientiert sich weitgehend am
Katalog der Kardinaltugenden: Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit sind
eindeutig zu identifizieren78. Einzig die intellektuelle Tüchtigkeit
der Phronesis bleibt unverwähnt, was wiederum impliziert, daß es für den
Tyrannen zunächst und vor allem um die Praxis ethischer Tugenden zu gehen hat.
Vor allem entspricht die peinliche Vermeidung des Phroneses-Begriffs im
Zusammenhang mit der Person des Tyrannen dem oben bereits hervorgehobenen
Sachverhalt, daß Aristoteles von den Betroffenen nie als ,,Bürgern“, sondern
stets nur als ,,Beherrschten“" spricht. Während die Beherrschten daran
gehindert werden, Bürger zu sein und damit Phronesis zu realisieren, ist der
Tyrann von seinem Wesen her zur Phronesis unfähig. Dies ist einsichtig zu
machen: Verfügt er über Phronesis, muß er sofort aufhören, Tyrann zu sein,
und seine Macht aus der Hand geben. Dazu kann aber der ,,königliche Tyrann“
natürlich nicht gebracht werden. Daher bleibt auch der ,,königliche Tyrann“
die Personifikation von nicht vorhandener Phronesis, mag er nomistisch noch so
korrekt handeln.
Dem entspricht der Verweis gegen Ende des
Kapitels79, daß το
ή̃θος
des Tyrannen zu verbessern sei. Insofern liefert der gesamte 2.Teil auch nur
eine reduzierte Beschreibung des wahren Königs: Nur nach seinem Ethos, nicht
nach der Phronesis, ohne die das Ethos niemals vollkommen sein kann, hin steht
in Tyrannis-Kapitel auch der wahre König zur Debatte. Den Hintergrund des
spezifisch aristotelischen Programms bildet aber ganz offensichtlich und
unverkennbar derjenige Teil der NE, der sich mit den einzelnen ethischen
Tugenden beschäftigt. Besonders deutlich wird diese Fundierung, wenn
Aristoteles dem Tyrannen rät, sich auch um ,,die anderen Tugenden“ zu kümmern,
und aus der Vielfalt ethischer Tugenden besonders die Tapferkeit als wesentlich
hervorgehoben wird80. ,,Die anderen“ bezieht sich dabei offenbar
auf den gesamten Katalog ethischer Tugenden, während die hervorragende Position
der Tapferkeit früher von Aristoteles Gesagtes aufnimmt, denn bereits die
schlechteste der richtigen Politeiai wurde auf diese Tugend gegründet und
beschränkt81.
Was nun die
Einzelheiten angeht, so enthält der Katalog der ,,Politik“ zwar von der
Anlage einer Kriegskasse über die Enthaltsamkeit in physischen Genüssen bis
zur Empfehlung korrekten ,,kulturellen“ Handelns allerlei Vorschläge, der
eigentlich politische Bezug bleibt jedoch ebenso merkwürdig im Hintergrund wie
die Darstellung der Reaktion bei den von dieser Form der Herrschaftsausübung
Betroffenen. Wir hören vor allem nichts über die ,,Bürger“ und deren
politische Partizipation. Zwar gilt auch hier der Satz, daß der ,,königliche
Tyrann“ genau das Gegenteil dessen zu verfolgen hat, was der Tyrann qua Tyrann
unternimmt, so daß also mit Hetairien und dergleichen zu rechnen ist, die
politische Rolle der Beherrschten im Verlauf des Verwandlungsprozesses bleibt
aber unklar. Lediglich ihr Privatleben läßt sich einigermaßen einsehen, so daß
sich insgesamt in dieser Hinsicht der erste und der zweite Teil des Kapitels
aufschlußreich ergänzen. Die exklusive Zentrierung auf das Ethos des Tyrannen
im zweiten Abschnitt bewirkt daher, daß auf der Basis der NE zwar der Charakter
des Königs deutlich zum Vorschein tritt, diese programmatische Selbstbeschränkung
auf die Person des Tyrannen verhindert jedoch eine umfassende Betrachtung der
Lebensweise einer königlich regierten Polis.
4. Zum Charakter des Tyrannis-Kapitels
Betrachtet man die gesamte Tyrannis-Abhandlung
im rückschauenden Überblick, dann wird deutlich, daß zwei auf den ersten
Blick recht naheliegende Bestimmungen gerade völlig am Sachverhalt vorbeigehen:
Nach W. Jaeger82 zeichnet sich das E durch die größte
Platon-Ferne aus und E. Barker83 sieht hier ,,a sort of machiavellian
realism“ am Werk.
Von beidem kann keine Rede sein. Die
,,Platon-Ferne“ trifft nicht zu, weil die wahrnehmbare Praxis nicht das
katalogisierte Fundament der Darlegung hergibt, sondern selbst nach den
Einsichten der aristotelischen Psychologie ausgelegt wird, weil es sich gerade
nicht um empirische Deskription handelt, sondern um wesentlich nicht-empirische
Wesensauslegung, die zwar auf Beobachtbares zurückgreift, sich aber weder auf
Auflistung des Wahrnehmbaren beschränkt noch von diesem einschränken läßt,
es vielmehr auf seine Wesenszüge befragt; und dies auf der Basis der
Psychologie und oft genug eben sogar unter Mißachtung historischer ,,Fakten“.
Die Skizze des von Periander entwickelten traditionellen Konzepts bildet eben
keineswegs eine ,,wertfreie“ Beschreibung tatsächlich vollzogener Praktiken84.
Die Differenz zu Platon läßt sich daher gerade nicht in der platten Gegenüberstellung
von Idealismus und Empirismus erfassen, vielmehr zielen beide auf Wesenskenntnis
ab, wobei diese wiederum geleitet wird von der Einsicht in die psychische
Ordnung des Menschen. Der wesentliche Unterschied liegt an ganz anderer Stelle:
Während in der platonischen ,,Politeia“ die Unordnung der Seele des Tyrannen
im Vordergrund steht, untersucht Aristoteles bei der Darlegung des
traditionellen Weges vor allem die Konsequenzen tyrannischer Praktiken in den
Seelen der Beherrschten und bringt die psychische Unordnung der Tyrannen-Seele
so gleichsam mittelbar zur Sprache.
Außerdem findet man den wesentlichen Gedanken
des ,,traditionellen“ Tyrannen, seine Stellung durch die gezielte und
konsequent durchgeführte psychische Deformation der Beherrschten abzusichern,
bei Platon eben nicht85.
Was den
,,machiavellistischen Realismus“ angeht, so ist es auch damit nicht weit her,
denn zunächst handelt es sich bei Aristoteles eben keineswegs um eine
,,realistische“ Schilderung. Es kann aber auch von ,,machiavellistisch“
keine Rede sein. Bedenkt man nämlich die beiden von Aristoteles explizierten
Wege vom Standpunkt des ratsuchenden Tyrannen aus, dann erscheinen seine
Aussichten alles andere als rosig: Die traditionelle Praxis führt, wie
Aristoteles ausdrücklich betonte, notwendig zum schnellen Untergang des
Tyrannen. Dieser Weg ist also zumindest äußerst riskant, unter Umständen tödlich,
in jedem Fall aber letztlich erfolglos. Daher impliziert seine ausführliche
Explikation vor allem eine Lehre für den Tyrannen: So geht es gerade nicht!
Als Konsequenz dieser Einsicht bleibt ihm nur
übrig, der von Aristoteles selbst propagierten Erhaltungsweise zu folgen, deren
Grundforderung im ,,So-tun-als-ob“ liegt. Dieses Postulat taucht nun bei
Machiavelli als zentral wieder auf86: ,,Es ist also nicht nötig,
daß ein Fürst alle aufgezählten Tugenden besitzt, wohl aber, daß er sie zu
besitzen scheint. Anscheinend ist Machiavelli also ein guter Aristoteliker und
unser Tyrann könnte bei beiden in die Schule gehen. Diese Gemeinsamkeit
zerbricht freilich am entscheidenden Punkt: Während Machiavelli beim bloßen
Schein bleibt und die psychische Unordnung des Tyrannen unangetastet läßt,
zielt Aristoteles darauf, das Ethos des Tyrannen durch Gewohnheit zu verbessern.
Wo Machiavelli auf bloß erfolgreiche Verlängerung des Un-Wesens zielt, strebt
Aristoteles nach dessen Destruktion. Folgt also der Tyrann den aristotelischen
Vorschlägen, dann wird gerade er selbst Opfer des ,,So-tun-als-ob“: Er hört
allmählich auf, ein Tyrann zu sein. Und genau hier läßt sich die wesentliche
Differenz Machiavellis zu Aristoteles quasi mit Händen greifen: Machiavellis ,,So-tun-als-ob“
täuscht exklusiv die Beherrschten und dient nur der tatsächlichen
Aufrechterhaltung der tyrannischen Macht, Aristoteles ,,So-tun-als-ob“ täuscht
zunächst zwar auch die Beherrschten - so lange nämlich, wie der Tyrann ethisch
noch nicht wirklich ,,königlich“ geworden ist-, vor allem aber den Tyrannen
selbst87.
Im Prinzip haben wir es daher mit drei
grundverschiedenen Erhaltungsversuchen von Tyrannis zu tun: dem aussichtslosen
Weg des Periander, dem genuin aristotelischen und dem machiavellistischen, den
Aristoteles implizit wohl für unmöglich hält, weil er auf die ethische
Verwandlung durch Gewohnheit setzt, den er aber jedenfalls mit keinem einzigen
Wort empfiehlt.
Allerdings muß
man sich wohl fragen, warum Aristoteles den Kanon des Periander so ausführlich
behandelt. Neben den bereits zu Beginn angesprochenen Gründen scheint mir hierfür
ein ,,pädagogischer“ Gesichtspunkt ausschlaggebend: Es geht auch um
praktisch-politische Abschreckung, d.h. um die von politischer Philosophie stets
intendierte Einflußnahme auf das praktisch-politische Leben. Die
Periander-Abhandlung entwirft ja gerade kein nachahmungswürdiges Beispiel oder
erfolgversprechendes Handbuch, aus dem für den Tyrannen zu entnehmen wäre, wie
er’s wohl anstellen müßte, um seine Herrschaft zu bewahren, vielmehr
impliziert der von Aristoteles gleichsam perfektionierte traditionelle Weg vor
dem Hintergrund der historisch untermauerten aristotelischen These, er müsse
letztlich doch erfolglos bleiben, für jeden Tyrannen die Warnung, es so, selbst
und gerade bei Perfektionierung des Schlechten, nicht treiben zu können, wenn
ihm an seiner Selbsterhaltung liegt. Aus dem Hinweis auf die historisch
nachvollziehbare Erfolglosigkeit resultiert, daß dem Tyrannen nur die von
Aristoteles propagierte Handlungsweise zu befolgen bleibt. Da die jedoch zur
Aufhebung des Tyrannis führt, ergibt sich aus dem E11 nicht zuletzt die
Erkenntnis, daß Tyrannis qua Tyrannis auf Dauer gar nicht erhalten werden kann.
Diese Unmöglichkeit mag auch ein Anlaß für
die Auseinanderlegung tyrannischen Wesens ausgerechnet innerhalb des ,,Politik“-Buches
über Verfall und Erhaltung von Bürgerschaften gewesen sein. Der besondere Ort,
an dem wir diese Abhandlung finden, erklärt sich jedenfalls aus einem damit
verbundenen allgemeinen Grund, den die ,,Politik“ übrigens in dieser
Deutlichkeit nicht zur Sprache bringt: In der ,,Rhetorik“ 88 sagt
Aristoteles, der Tyrann verfolge als einziges Ziel die Erhaltung seiner
Position. Deshalb gehört eine Theorie der Tyrannis folgerichtig gerade in den
Teil der ,,Politik“, der sich dem Problem der Bewahrung und des Verfalls von Bürgerschaften
widmet.
Quellenangaben
1
Zur sprachlichen Herkunft von TyranniTyrannis vgl. A. Heuss, Hellas, in: G. Mann
u. A. Heuss (Hg.), Propyläen Weltgeschichte, Bd. 1111 (1976) 71-400, hier 143.
Um falsche Aufladungen des Tyrannis-Begriffs von vornherein zu venneiden, sei
bereits hier auf die für sein Rahmenverständnis wesentlichen Bemerkungen bei
Jakob Burckhardt, Kulturgeschichte Griechenlands (1940) 88ff., und M.J. Finley,
Die frühe griechische Welt (1981)116, hingewiesen. Zur aristotelischen Theorie
des Bürgers, der Polis, der Politeia und des Politeuma im allgemeinen sowie zur
Politeia-Hierarchie und den Bestimmungen der übrigen einzelnen Bürgerschaften
vgl. im 1985 bei Alber erscheinenden Buch des Verf., Die politische Philosophie
des Aristoteles und ihre metaphysischen Grundlagen, die entsprechenden Kapitel.
2
Γ6,
1279a17ff.; Γ7,
1279b4ff.; Γ8, 1279b16f.; Δ10, 1295a19ff; E1O, 1311a2ff.
3
Γ7,
1279b4ff.; Δ2,
1289a26ff. und a37ff.; Δ10, 1295a17ff.; A 8, 1293b 27ff.
4
Δ4,
1292a 15ff.; Δ5,
1292b 7ff.; Δ14, 1298a 31ff.; Ε10, 1310b 2ff., 1311a 8f., 1312b 5f. und b34ff.
5 Γ17, 1287b 39ff.; zu den von Aristoteles bemerkten historischen
Bedingungen sowie zur geschichtlichen Entstehung der Tyrannis vgl. Ε5,
1305a 7-28 und E10, 1310b 12ff.
6
Δ10,
1295 a 17ff.; wörtlich: „die am meisten Tyraniss zu sein scheint“.
7
Δ10,
1295a 7ff.; vgl. auch die näheren Ausführungen in Γ14,
1285a 16- 1285b 3.
8
Γ14,1285b2f.
9
Dies
wird sofort deutlich, wenn man die in Γ14 und Δ10 für die Formen der uneigentlichen Tyrannis erwähnten
Charakteristika „Gesetzmäßigkeit“ und ,,Herrschaft über freiwillig
Gehorchende“ mit den Auseinandersetzungen des E11 konfrontiert. Für
Einzelbeispiele kann Aristoteles zwar dort auch auf die Perser oder Ägypter
verweisen (1313a 37f., 1313b 9f., 1313b 21f.), doch illustriert er damit 1)
lediglich übliche Praktiken aus tyrannisch beherrschten griechischen Poleis und
2) seine Auffassung. dass die Zwitter eben auch ihre tyrannische Komponente
besitzen. So umfasst seine Tyrannis-Analyse zwar auch in Barbaren-Monarchien
exerzierte Praktiken, Basis und Rahmen aber bildet die griechische Polis; was
schon erkennbar wird u. a. durch die Bezugnahmen des E11 auf die Demokratie und
die Mehrzahl seiner historischen Belege sowie die das E11 historisch abrundenden
Erläuterungen im E12.
10 Vgl. das Kapitel über Aristokratie/Königtum in:
Die politische Philosophie (wie Anm. 1) d. Verf.
11 Vgl. dazu d. Verf., Die politische Philosophie (wie
Anm. 1).
12
E11,1313a35ff.
13 Zu Periander, der selbst wieder „Schüler“ des Tyrannen Thrasybulos
war, vgl. die Erzählung in Herodots Historien, V92.
14 E11,1314a29ff.
15 Zu
den literarischen Vorgängern dieses Weges vgl. A. Heuss, Aristoteles als
Theoretiker des Totalitarismus, in: Antike und Abendland, Bd. 17(1971)1-44, hier
26.
16
Vgl. E12,
1315b 11f. und 1315b 38f. E. Barker, The political thought of Plato and
Aristotle (New York 1959) 495, hat diese beiden Erhaltungsweisen dadurch
differenziert, dass der Weg der Periander die Beherrschten ,,unable in revolt“
mache, während der aristotelische dazu führe, in make the others unwilling to
revolt“. Diese Unterscheidung scheint mir unzureichend, denn letztlich geht es
doch nicht darum, dass die Beherrschten nicht mehr revoltieren wollen, sondern
darum, dass sie nicht mehr zu revoltieren brauchen, weil der Aristoteles
folgende Tyrann gar keine Tyrann mehr ist.
17 Z.B.:
E11, 1313b 6 und 1313b 12. Dieser wesentliche Aspekt wird z.B. in der Übersetzung
vom 0. Gigon der etwa (1313b 6) επιδημούντες;
mit „ansässige Bürger“ wiedergibt, völlig verdeckt.
18 Vgl.
Δ4, 1292a 17f. in Verbindung mit 1292a 30f.
19 E11,
1314a12ff.
20 E11,
1313a 40 - 1314a 12; vgl. dazu A. Heuss, Aristoteles als Theoretiker (wie Anm.
15) 3ff.
21 E11,
1313b 32ff. Die eben angesprochene allgemeine Schlechtigkeit der Tyrannis
unterstreicht Aristoteles hier durch den Hinweis, daß ihre ökonomische
Unordnung den Verhältnissen in der radikalen Demokratie entspricht. Zum
nachfolgenden Komplex Ehe und Oikos vgl. die Abschnitte „Grundformen von
Mensch-Sein“ und ,,Formen menschlicher Gemeinschaft“ in: d.
Verf., Die politische Philosophie (wie Anm. 1).
22 Vgl. dazu A2, 1252a 26ff.
23 So zuletzt wieder A. Meister, Das Tyrannenkapitel in der ,,Politik“
des Aristoteles, in Chiron, Bd. 7(1977)35-41, hier 37.
24
Vgl. A.
Heuss, Hellas(wie Anm. 1)142-150, 178ff. und 387ff., sowie H. Berve, Wesenszüge
der griechischen Tyrannis, jetzt in: ders., Gestaltende Kräfte der
Antike(1966)208-231, hier 230f.
25 Vgl.
A. Heuss, Hellas(wie Anm. 1)145.
25 Ebd.
387ff.
27 H.
Berve, Wesenszüge der griechischen Tyrannis(wie Anm. 24) 230f.
28 A.
Heuss, Aristoteles als Theoretiker(wie Anm. 15) 41f.
29 Ebd.
39.
30 Ebd.
39ff.
31 E11,
1313a 40ff.
32
Γ9,
1281a 4ff.
33 E11,
1314a 19ff.; zum Begriff der ,,Anständigen“ vgl. das Kapitel über Königtum
und Aristokratie in: d. Verf., Die politische Ordnung(wie Anm. 1).
34
A. Heuss, Aristoteles als Theoretiker(wie Anm. 15) 42 meint, in Aristoteles’
Aufzählung fehle der Bereich der intellektuellen Depravation. Dem ist insofern
zuzustimmen, als Aristoteles das Phänomen der politischen Ideologie in der Tat
nicht kennt, im Zusammenhang der tyrannischen Verhinderung vor „Muße“ wird
sich jedoch herausstellen, daß ein wesentlicher Effekt tyrannischer Herrschaft
in der Ruinierung von ,,Theoria“(θεωρία)
besteht, der Intellekt also keineswegs unberührt bleibt.
35 Vgl.
dazu u.a. NEII 1, Ι10, 1099b 30ff., I13, 1102a 7ff.
36
Vgl. A.
Heuss, Hellas(wie Anm. 1)182 u. 147; vgl. zur „kulturpolitischen“ Bedeutung
der Tyrannis auch M.J. Finley, Die frühe griechische Welt(wie Anm. 1)118 u.
139.
37 NE
X10, ll80a 25ff.
38 E11,
1313b 18ff.
39 Vgl.
A2, 1253a 3ff.
40 Vgl.
H2, 1325a 5ff.; H14, 1333a 35 u. 1333h 38ff.
41 Vgl.
A7, 1255b 36f. und Met. A1,981h 20ff.
42
Vgl. L.
Strauss, The City and Man(Chicago 1964)37.
43 So
A. Heuss, Hellas(wie Anm. 1)149.
44 So
H. Bengtson, Griechische Geschichte(61981)86f.
45 Vgl.
H. Berve, Wesenszüge(wie Anm. 24) S.227; H. Bengtson, Griech. Geschichte (wie
Anm.44) 87, und V. Ehrenberg, From Solon to Socrates(London 1976) 84ff.
46 E11,
1313b 5f~ und 1313b 11ff.
47 E11,
1313b 29ff. und 1314a 10ff.
48 E11,
1313b 8f., 1314a 16f. und a29.
49 NE
IV, 7-10; die Notwendigkeit dieses Rekurses ist sehr gut gesehen und
ausgearbeitet bei A. Heuss, Aristoteles als Theoretiker(wie Anm. 15)19ff.
50
1V9, 1125a 16ff. und a 32ff.
51
Ebd. 1125a 19ff.; zum Megalopsychos vgl. IV7, 1123b 1f.
52
E11, 1314a 23ff.
53
Diesen Zusammenhang von Megalopsychie und Philia hat sehr gut gesehen A. Heuss,
Aristoteles als Theoretiker(wie Anm. 15)24.
54 NE
VIII4, 1156b 7f.;V1115, 1156b 33f. und 1157a 30f.;V111 7, 1157b 25.
55 NE
IX4, 1166a 13f.,a l6f.und a22f.; IX8 1168b 34f. und 1169a 2.
56
NE IX4, 1166a
1f.und a30ff.
57 NE
IX4, 1166b 2-1166b 29.
58 E11,
1314a 1f.
59 E12,
1315b 11f. und b 38f.
60 E5,
1305a 15.
61
14, 1360a
23ff.
62 Vgl.
dazu Δ7
63 Δ11, 1295a 31ff.
64 E7,
1307a 5ff.
65 Γ15, 1286b 20ff. in Verbindung mit Δ6,
1292b 41ff.
66 E10,
1313a 3ff.
67 E12,
1315b 12ff. und b24ff.
68 Vgl.
Staat der Athener 14.3, 16.2, 16.7, 16.9 und 17.3; vgl. Herodot Ι 59(wie
Anm.45)und Thukydides VI 53f., sowie V. Ehrenherg, From Solon to Sokrates,
80ff.; C. Hignett, A Histoty of the Athenian Constitution(Oxford 1975)116ff.; W.
G. Forrest, Wege zur hellenischen Demokratie (1966) 182, und H. Berve, Wesenszüge(wie
Anm. 24)255.
69
E11, 1314a
29ff.
70 E11,
1314a 34f.
71
E11, 1314a
39f.
72
E11, 1314b
36f.und l3l4a 3lf.
73 NE
X10, 1179b 10ff., 1179b 20ff. und 1180a 1ff.
74 E11,
1314a 35f. Es trifft deshalb nicht zu, daß sich, wie A. Heuss, Aristoteles als
Theoretiker (wie Anm. 15)17, meint, die beiden Teile des Tyrannis-Kapitels
dadurch substantiell unterscheiden, daß im ersten Gewalt als alleiniges
Erhaltungsprinzip vorgestellt würde, während im zweiten der Abbau der Gewalt
zentral sei.
75 Dies
hebt mit Recht W. Bröcker, Aristoteles (41974) 307, hervor.
76 Vgl.
G. Bien, Die Grundlegung der politischen Philosophie(1973)161. D. Stemberger,
Drei Wurzeln der Politik(1978)122 u. 125, glaubt dagegen, in der besten Polis
sei für Aristoteles - wie für Platon - der König Philosoph und der Philosoph
König. Dies ist jedoch gerade nicht - oder nicht notwendig - der Fall.
77 E11,
1314a 40-1314b 18.
78 E11,
1314b 28ff, 1314b 28ff. und 1315a 4ff.
79 E11
1315b 8f.
80 E11,
1314b 21f.; daß der gesamte Katalog ethischer Tugenden als Hintergrund zu
denken ist, macht eine frühere Äußerung des Aristoteles deutlich(A13, 1260a
17f.)
81 Γ7 1279a 37ff.
82 W
Jaeger, Aristoteles(31967)284; vgl. auch J.B. Morrall,
Aristotle(London 1977)98.
83 E.
Barker, The life of Aristotle and the composition and structure of the Politics,
in: Classical Review, Bd. 45(1931)162-172, hier 163.
84 Vgl.
A. Heuss, Aristoteles als Theoretiker(wie Anm. 15)15.
85 So
ganz zu Recht A. Heuss, Aristoteles als Theoretiker(wie Anm. 15)30.
86 Machiavelli,
Der Fürst, hg. und übersetzt von E.Merian-Genast(1976) Kap.18, 105; J.
Burckhardt, Kulturgeschichte Griechenlands, 107, hat denn auch gemeint,
Machiavelli habe einiges von dem, was Aristoteles über den ,,königlichen“
Tyrannen sagt, in seinen Principe“ übernehmen können.
87 Daß bei Aristoteles gerade der Tyrann selbst getäuscht wird, wird
allzuleicht übersehen (vgl. etwa H. Berve, Wesenszüge[wie Anm.24]233), obwohl
dies doch den eigentlichen Clou des aristotelischen Programms darstellt.
88 I8, 1366 a6.
Ende-Τέλος
e-Mail: dr.andreas.kamp@t-online.de